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Birgenair - Flugzeugabsturz, Monument Entwurf

Alles im Griff? Robert Kesslers transformatorische Rettungseinsätze jenseits des Beherrschbaren - 2002


Aus den oben aufgeführten Gründen mussten die Werkdetails aus diesem Text entfernt werden und stehen nur auf Anfrage zur Verfügung.



Alles im Griff?
Auszüge
Die Geschichte der menschlichen Kultur wird zu Recht auch an Bahn brechenden technisch-zivilisatorischen Erfindungen und Errungenschaften festgemacht. Für die Zeitgenossen tief greifender Entwicklungsschritte ist es freilich selten möglich, die Tragweite technologischer Erfindungen zu überblicken, sei es, dass solche Ereignisse gar nicht von allen zur Kenntnis genommen werden, wie dies früher sicher der Fall war, sei es, dass den wenigsten bewusst ist, wie stark zivilisatorische  Errungen­schaften in das gesamte gesellschaftliche Gefüge und in das Erleben des Einzelnen eingreifen können.

Zivilisatorische Denkprofile
Die Zivilisation der so genannten westlichen Hemisphäre muss im Vergleich etwa zur indischen und chinesischen Kultur über große Zeiträume als eher primitiv und rückständig bewertet werden. Und wenn es stimmt, dass die Chinesen das Papier und das Schießpulver erfunden haben, warum haben dann erst die Europäer dieses Schießpulver in Flinten gestopft, sind über die Meere gesegelt und haben in wenigen Jahren die ganze Welt unterjocht? Seit einem halben Jahrtausend bestimmen Europa und sein neuenglischer Ableger USA, was als Fortschritt gilt, und die ganze Welt hechelt diesen Standards hinterher.
Für die unterschiedliche Umgangsweise mit Technologien in verschiedenen Kulturen lassen sich komplexe Erklärungsmodelle konstruieren, die hier aber nicht von Belang sind. Auffallend und für unseren Zusammenhang relevant ist das Phänomen, dass beispielsweise die alten asiatischen und indischen Kulturen ein ausgeprägtes Körperbewusstsein und darüber hinaus gehend eine mentale Bewusstseinskultur entwickelt haben, die sowohl in den spirituellen wie in den medizinischen Disziplinen eine tragende Rolle spielten.
Im christlichen Abendland konnte sich hingegen durch ein einseitig interpretiertes Christentum von Anfang an eine Spaltung von Körper und Geist etablieren, die alles Körperliche negativ besetzt und die spirituelle Erfahrungsdimension durch Glaubensthesen ersetzt hat. Die spätere Säkularisierung hat diese Spaltung nicht etwa aufgehoben, sondern im Gegenteil noch verstärkt.
Zivilisatorischer Fortschritt ist in unserer abendländischen Kultur von Anfang an und durch und durch von massiven »Spaltpilzen« infiziert. Die gewaltsam eroberten Kontinente der Welt wurden primär als Ausbeutungspfründe für westliche Nationen betrachtet, die ökologischen Folgen technologischer Produktionsverfahren bis in unsere Gegenwart einfach ausgeblendet. In den letzten Jahren müssen wir die absolute Hybris solcher Entfremdungsprozesse am Beispiel der High-Tech-Kriege zur Kenntnis nehmen, die mehr oder weniger von Computern geführt werden; lebende, fühlende und denkende Menschen als zeitlebens traumatisierte Opfer eines tausendfachen Overkills kommen in solchen Szenarien nur noch als Kollateralschaden vor.

Gegen den Strich bürsten
Die Kunstgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte zeigt, inwiefern mit der Ablösung künstlerischer Arbeit von weltlichen und kirchlichen Auftraggebern Künstler einen wesentlichen Beitrag geleistet haben, Dinge ungefiltert anzuschauen und darzustellen. So unterschiedliche Künstlerpersönlichkeiten wie Francisco de Goya oder Caspar David Friedrich stellen zur gleichen Zeit fundamental neue und durchaus verschiedene Fragen zur menschlichen Existenz. Kunst wächst aus solchen Perspektiven zu einem Unterfangen, das gegen den Strich gesellschaftlichen Einvernehmens bürstet und Dinge neu zu sehen wagt. Nicht umsonst hatte der alternde Goya stets einen gepackten Koffer im Atelier stehen, um jederzeit vor den Schergen des Establishments fliehen zu können. Und Friedrich hat seine Vision des Menschseins mit totaler Ablehnung und gesellschaftlicher Isolierung bezahlt.
Mit dem Mut einiger Künstler, radikale Fragen zu stellen, haben sie zugleich Aufgaben übernommen, die ursprünglich der »religio« oblagen, nämlich Rückbezüge und Beziehungen zu schaffen, die in einer Abspaltungskultur völlig verloren gegangen waren: Seien es die Dinge des Alltags oder Phänomene des Arbeitslebens, seien es Krankheit und Tod oder Erotik und Sexualität. In vielen Bereichen haben Künstler gegen massive Proteste Tabus gebrochen, nicht um des Skandals willen, sondern um wieder Beziehungen zu schaffen, die nach ihrer Auffassung nicht die Kehrseite, sondern zentraler Bestandteil des Lebens sind.

Fortschritt als technologisches Beherrschungsritual  
Ein wesentlicher Entwicklungsantrieb westlicher Technologie ist die Intention, die Welt beherrschbar und kontrollierbar zu machen. Flugzeuge und Automobile lassen Entfernungen schrumpfen, die Telekommunikation funktioniert rund um den Globus und dringt ungefragt mit ihrer Informationsfülle in jedes private Wohnzimmer ein, Krankheiten werden ausgerottet oder sind mit Hilfe medizinischer Apparaturen und pharmakologischer Maßnahmen beherrschbar. In einem gnadenlosen Wettlauf um Marktführerschaft ist die Genforschung gerade dabei, das erforderliche Know-How zu entwickeln, um Pflanzen, Tiere und Menschen nach den Vorstellungen von zahlungskräftigen Auftraggebern zu designen.

Das Leben als Abenteuer mit Endlichkeitsgarantie
Störend an der ganzen Erfinderei ist – wenigstens auf der Ebene menschlichen Lebens - eigentlich nur die Tatsache, dass einige Lebensvollzüge nach wie vor so ablaufen wie zu Zeiten der Neandertaler. Immer noch werden Kinder von Müttern geboren, von Eltern erzogen, suchen sich irgendwann Lebensgefährten um ihrerseits Nachkommen zu zeugen, und schließlich, das ist fast skandalös, sterben sie wie eh und jeh, und Hinterbliebene müssen sehen, wie sie zurechtkommen. Es scheint, als entzögen sich gerade die wesentlichen Lebensbereiche, etwa unsere Beziehungen und Partnerschaften, die Entwicklung unserer Kinder sowie die alles entscheidende Frage von Krankheit und Tod unserer Kontrolle.
Nach wie vor sind wir in emotionalen Belangen dem Leben ausgeliefert, erleben als Kleinkinder die Ohnmacht gegenüber dem Willen Erwachsener, müssen, jeder für sich, die Entwicklungsstufen von Kindheit und Adoleszenz durchstehen, die Gefühlsachterbahnen von Beziehungen und Partnerschaften ertragen lernen und sehen uns schließlich immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass das Leben unserer Freunde wie unser eigenes irgendwann zu Ende geht. Spätestens in der Frage nach Leben und Tod entzieht sich alles unserer Kontrolle, und wir sehen uns mit der provokanten Frage konfrontiert, ob das alles einem höheren Gesetz unterliegt, dem wir uns zu beugen haben, oder ob wir schlicht Opfer eines ungerechten Lebens sind. Und spätestens hier stellen sich Sinnfragen auch denjenigen, die im übrigen damit beschäftigt sind, ein anständig großes Stück Unterhaltung aus dem Kuchen der Spaßgesellschaft zu ergattern.

Katastrophen als Einbrüche des Unfassbaren
Die Verlegenheit, in der wir alle diesbezüglich stecken, hat jeder schon kennen gelernt. Es gibt jedoch Ereignisse, die besonders signifikant Schlüsselfragen aufwerfen, um die es hier gehen soll. Bezeichnenderweise können Medien mit allergrößtem Zuspruch und perpetuierender Aufmerksamkeit rechen, wenn in Verbindung mit High-Tech-Transportmitteln katastrophale Unglücke passieren. Ein Hochgeschwindigkeitszug entgleist, eine riesige Autofähre versinkt im Meer, ein Flugzeug stürzt ab. Hunderte von Menschen sterben plötzlich, werden mitten aus dem Leben gerissen. Sie hatten sich einem technisch perfekten Vehikel anvertraut, hatten ein Ziel, hatten irgendwo Abschied genommen und wollten irgendwo ankommen. Und dann tritt das Unfassbare ein. Nichts mehr ist im Griff, nichts ist mehr wie vorher, niemand hat wenigstens eine plausible Erklärung. Und was tun Angehörige, die nicht einmal einen Leichnam zu Grabe tragen können, Menschen, in deren Leben ein geliebter Mensch einfach spurlos verschwunden ist?
Wenigstens am gedanklichen Horizont ist jedem schon eine solche Frage aufgeschienen, der – nolens volens – von einer solchen Katastrophe erfahren hat. Es gehört zu unserer Alltagsbefindlichkeit, solch unbequeme Fragen schnellstens wieder beiseite zu schieben, schließlich sind wir ja gar nicht persönlich betroffen, und wie könnte denn eine Antwort aussehen?

Eine künstlerische Herausforderung: Die Not wenden
Wenn die zeitgenössische Kunst eine Daseinsberechtigung hat, dann ist es der Mut und die Bereitschaft von Künstlerinnen und Künstlern, den Fragen nachzugehen, die in unserer selbstgefälligen Gegenwartsverliebtheit so schnell verschwinden wie die Zeitung von gestern. Robert Kessler ist einer, der weder in seiner eigenen Biografie diesen Unbequemlichkeiten ausgewichen ist noch auf der Ebene solcher Katastrophen, die die Medien füttern, von denen aber niemand weiß, wie sie wirklich erlebt werden.
Kesslers Herangehensweise ist insofern schon bemerkenswert, weil er, wie jeder andere, aus den Medien von einem solchen Ereignis erfährt. Statt bei mehr oder weniger starker Betroffenheit stehen zu bleiben wie die meisten, fängt er an, die Fragen aufzuwerfen, die sich unmittelbar mit der Not, mit dem Leiden des Einzelnen stellen. Stellvertretend für viele, die dazu zunächst nicht in der Lage sind, entwirft er ein künstlerisches Szenario, das den Betroffenen wiederum symbolische Handlungsräume öffnet, die nach Kesslers Auffassung für die Bewältigung solcher Grenzsituationen individuell wie kollektiv notwendig sind. Überhaupt: Die Not wenden, ist dies nicht eine wesentliche, transformative Aufgabe, die uns das Leben lang begleitet? Die Not wenden, statt Opfer zu bleiben, statt stecken zu bleiben in Leid oder Hass.
Handlungsfähig zu werden im Sinne einer Transformation zu Aufrichtigkeit hinsichtlich der wirklichen Parameter unserer Existenz: der Möglichkeit des jederzeitigen Endes. Das ist weder nekrophil noch todessehnsüchtig, vielmehr gewinnt hier ein politischer Beitrag zur Rückkehr in die unmittelbare Gegenwart an Terrain, eine Bereitschaft zur Präsenz mit allen Sinnen, statt einem Sich-Verlieren in einer Welt der absoluten Planbarkeit und Machbarkeit.
Hier künstlerisch aktiv zu werden, bedeutet nicht nur die persönliche Auseinandersetzung mit einem Vorkommnis, erforderlich ist vielmehr auch die Empathie mit den Betroffenen sowie die Fähigkeit und Bereitschaft, sich weitgehend in deren Lage zu versetzen. Künstlerische Intervention bedeutet hier Beziehungsarbeit auf vielen Ebenen. Bei einer Katastrophe größeren Ausmaßes heißt dies auch, sich der Verzweiflung, Trauer, Wut und Hilflosigkeit vieler Hinterbliebener zu stellen. Ein unbequemeres Feld ist also kaum vorstellbar. Und Dankbarkeit ist ebenso wenig gewiss.

Birgen-Air
Stellvertretend für viele andere Arbeiten Robert Kesslers, die sich mit Trauern und Gedenken befassen, soll hier sein Entwurf für den Flugzeugabsturz der Birgen-Air vor der Küste der Dominikanischen Republik näher untersucht werden. Kessler selbst beurteilt diesen Entwurf als einen seiner wichtigsten.

Anlass
Bei einem Flugzeugabsturz einer Boeing 757 der türkischen Fluggesellschaft »Birgen-Air« am 6. Februar 1996 kamen 189 Menschen ums Leben. Der Absturz der mit deutschen Urlaubern besetzten Maschine ereignete sich auf dem Rückflug von der Dominikanischen Republik nach Deutschland. Die Absturzstelle liegt ca. 10 Seemeilen von der Küste entfernt im Meer.

Der Grundgedanke

Wie bei derartigen Katastrophen üblich, äußern die Hinterbliebenen den Wunsch, ein Denkmal, also einen Ort des Erinnerns und des Trauerns zu schaffen. Um diesen Ort quasi dauerhaft zu erhalten liegt es nahe, ein Material wie Stein zu wählen. Insoweit kann man hier von einem Vorgehen sprechen, das den üblichen Bedürfnissen bei der Schaffung von Denkmälern aller Art entspricht. Alles weitere offenbart jedoch einen Ansatz, der an Vielschichtigkeit kaum zu überbieten ist und die eben eine spezifische Imagination erfordert.

Orte des Trauerns, Handlungen des Heilens
Es erübrigt sich der Hinweis, dass hier ein einziges traumatisches Ereignis äußerst differenziert symbolisch gestaltet und verdichtet wird, so dass Trauerarbeit an unterschiedlichsten Orten und in unterschiedlichsten Aktionen möglich wird. Damit nicht genug, legt Kessler Wert auf die namentliche Repräsentation jedes Verstorbenen. Die Lösung, die er hierfür anbietet, ist ebenso einfach wie bestechend.

Kunst als transformatorischer Raum

Unschwer kann man sehen, dass Robert Kessler hier einen Kunstbegriff umsetzt, der in dieser Deutlichkeit erstmals von Joseph Beuys formuliert wurde. Wie seinem geistigen Mentor Rudolf Steiner ging es Beuys um die Überwindung der Spaltung von Kunst, Religion und sozialem Geschehen. Kessler sieht seine Aufgabe als Künstler in der ästhetischen Formulierung von Situationen, die erst durch die Benutzer ihre eigentliche Bestimmung finden. Kunst ist das Verfahren, das also Beziehungen wieder herstellt, das symbolische Gelegenheiten schafft für die individuelle Bewältigungen von Ereignissen, die das Erträgliche bei weitem übersteigen.
So sehr nahe liegt, dass Kessler mit seinen komplexen Konzepten für Erinnerungs- und Trauerarbeit den Betroffenen helfen kann, so bewegt er sich damit zugleich auf einem Terrain, das ihm nicht nur Freunde schafft. Rituale dienen seit Urzeiten der gesellschaftlichen Markierung, der Bewältigung, der Integration. Ihr Missbrauch zu allen Zeiten und besonders im 20. Jahrhundert hat sie zumindest in unseren Breiten grundsätzlich in Misskredit gebracht, so dass sich heute jede Form des Rituals auf seine Lauterkeit befragen lassen muss.
Auch wenn wir überkommene Rituale zu Recht in Frage stellen oder ablehnen, als kommunikative Wesen sind Menschen in puncto Rituale ebenso abhängig wie empfänglich. Es zeichnet sich ein bislang wenig beackertes Feld ab, das heute am ehesten Künstler bestellen könnten. Die Schaffung neuer, adäquater Symbole würde unserer säkularisierten Welt des Erledigens wieder die Würde bewussten Handelns zurückgeben. Robert Kessler ist einer, der das Risiko nicht scheut, diesen riskanten Pfad zu beschreiten.

Bernt Engelmann, 2003

Bernt Engelmann
lebt in München und Vinci (Italien), Schulzeit in Lissabon und München, Kunststudium an der Akademie der Bildenden Künste München, Studium der Soziologie, Psychologie und Kunstgeschichte an der LMU München, seit 1978 Kunstpädagoge und Fortbildungsleiter in München, Ausstellungen, Theater- und Performance-Projekte von 1994 - 2007 Aufbau und Leitung des Studienbereichs Medienpädagogik an der Akademie der Bildenden Künste München, Dokumentar- und Experimentalfilme, Video-Essays, Theaterdokumentationen und Rückprojektionen